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Ein Bericht von Heinz Eisler :

Es ist Samstag, der 23.11.2002, 21.00 Uhr. Ich stehe auf der Terrasse der Bungalowanlage Bellavista in Incisa im Val d`Arno, ca. 20 km südlich von Florenz. Der seit einigen Tagen abnehmende Vollmond leuchtet vom sternenklaren Himmel und lässt die Blätter der unzähligen Olivenbäume silbrig schimmern. Es hat ca. 10 Grad Celsius plus und nicht einmal ein Hauch von Wind war zu verspüren. Mit einem Wort: "ideales Marathonwetter" !

Um 22.30 Uhr ging ich zu Bett. Ich dachte noch kurz an die Startvorbereitung und an meine Taktik (Durchschnittsgeschwindigkeit 4 min 10 sec, d.h. Endzeit ca. 2 h 56 min, die ersten Kilometer mit 4 min 12 sec anlaufen und dann steigern, auf keinen Fall den Puls höher als auf 150 rauflassen) und fiel kurz darauf zufrieden lächelnd in einen komaähnlichen Tiefschlaf.

In dieser Nacht schlief ich so gut wie noch nie vor einem Marathon. Das Aufstehen war für 6.00 Uhr geplant. Um 5.30 Uhr weckte mich jedoch ein Bauarbeiter mit seinem Presslufthammer. Dachte ich. Es waren nämlich Regentropfen, die von einem orkanartigen Wind waagrecht an die Fensterscheiben geschleudert wurden.

Plötzlich war ich hellwach ! 10 Wochen hartes Marathontraining umsonst ? Nein, das darf nicht sein. Bis zum Start um 9.00 Uhr war ja noch genug Zeit. Der Wind lässt sicher nach, oder hört ganz auf. Auf jeden Fall war jetzt positives Denken angesagt. Und tatsächlich hörte es 1 Stunde vor dem Start zu regnen auf. Auch der Wind war im Startbereich kaum zu spüren.

Neue Hoffnung keimte auf. Zum ersten Mal in Florenz gab es Startblöcke. Obwohl genau kontrolliert wurde, entdeckte ich viele Starter mit Nummern aus den hinteren Startblöcken. Na ja, wie sonst überall auch. Neu war auch, dass "Pacemaker" für unter 3 Stunden, unter 3.30 Stunden, unter 4 Stunden und unter 4.30 Stunden mit verschiedenfarbigen Luftballons am Start waren. Meiner hatte die Farbe blau. Ich überlegte kurz, ob ich mich dieser Gruppe anschließen sollte.

Nein, ich laufe lieber mein eigenes Rennen, dachte ich, aber für den Fall, dass sie mich einholen würden, nahm ich mir fest vor mich an die Gruppe anzuhängen. Da, plötzlich der Startschuss, und wieder dieses träge Anlaufen. Es waren viel zu viele langsame Läufer in den vorderen Startblöcken. Die ersten 500 Meter gingen zwar ansprechend bergauf, trotzdem war die Zwischenzeit für den ersten Kilometer enttäuschende 4 min 40 sec. Dann folgte jedoch ein 1,5 km langes Bergabstück, das es in sich hatte (Km-Schnitt 03 min 38 sec !). Bei Km 5 hatte ich eine Zwischenzeit von 20 min 02 sec mit einem Durchschnittspuls von 147 (!).

Auf den nächsten 5 km war der Wind auch kaum zu spüren. Die Zwischenzeit nach Km 10 (40 min 42 sec mit 149 Puls) ließ mich zuversichtlich sein. Ich sagte mir, sei nur nicht zu schnell, und drosselte ein wenig das Tempo. Ich lief die Km 10 - 15 in 21 min 4 sec mit Puls 146 (!!!), obwohl bereits der Wind zu spüren war.

Ab Km 15 nahm der Wind zu und ich dachte bereits an meine Halbmarathonbestzeit (1 h 27 min 25 sec). Obwohl ich mich noch sehr gut fühlte, ahnte ich bereits was noch auf mich zukommen würde. Bis jetzt verlief der Kurs nämlich großteils in bewaldetem Gebiet. Da ich wenigstens EINEN Rekord mit nach Hause nehmen wollte, beschleunigte ich das Tempo (Km 15 - 20 in 20 min 15 sec mit Puls 152) und überquerte die Halbmarathonmarke mit 1 h 26 min 43 sec (HM-Rekord um 42 sec verbessert, yes !).

So und jetzt schau´n wir mal was passiert. Die nächsten 10 Km verliefen bei mehr oder weniger ständigem Gegenwind recht konzentriert und kraftaufwändig (43 min 28 sec, das ergibt nach 30 Km eine Zwischenzeit von 2 h 5 min 30 sec, d.h. einen Km-Schnitt von 4 min 11 sec, was immer noch eine theoretische Endzeit von 2 h 56 min 30 sec bedeuten würde, wie gesagt, theoretisch, denn praktisch war die Sache gelaufen).

Plötzlich hörte ich hinter mehr ein lautes Trampeln, was den Rückschluss auf eine größere Gruppe zuließ. Tatsächlich, es war der Mann mit den blauen Luftballons, die natürlich längst geplatzt waren, und dem gelben T-Shirt mit der Aufschrift: "Follow me under 3 hours". In seinem Schlepptau befanden sich ca. 5 Läufer und 3 Läuferinnen (!).

Von Km 31 bis Km 33 konnte ich dieser Gruppe mit schmerzverzerrtem Gesicht folgen. Der Km-Schnitt betrug 4 min 12 sec. Auf diesen 2 Km rissen noch 2 Läufer und 1 Läuferin ab, alle drei überholten mich aber später irgendwo. Dann war Schluss mit lustig. Immer öfter wurden die Waden steif, d.h. Zwischenschritte einlegen, unrhythmisch werden, humpeln, kämpfen, alles in Frage stellen, auf sich selbst böse sein, auf den Marathon sowieso, schlichtweg der helle Wahnsinn. Für Km 35 bis 40 brauchte ich 23 min 43 sec mit Puls 157. Irgendwann, ich weiß nicht mehr wann, ich kann mich auch heute noch nicht daran erinnern, sah ich den roten, ca. 200 m langen Zielteppich.

Bei meinen bisherigen 8 Marathons sprintete ich ausnahmslos die letzten 150 bis 200 m mit einem Km-Schnitt von 3 min 00 sec bis 3 min 15 sec (!!!). Aber diesmal konnte ich nicht einmal laufen, ich musste gehen, Verzeihung, humpeln. Die Beine waren stocksteif, die alle 5 Sekunden stattfindende Hochrechnung meiner Endzeit erlaubte noch immer einer Verbesserung meines persönlichen Marathon-Rekordes. Ich konnte mich jedoch fast nicht mehr fortbewegen, wie in einem bösen Traum.

Ein Wahnsinn. Ich überlegte ernsthaft, ob ich schneller bin wenn ich mich auf den letzten 50 m anstatt auf allen Vieren zu kriechen, seitlich abrolle. Ich wollte unbedingt den Rekord aufstellen. Mein Geist war hellwach, meine Gedanken rasten, welche Möglichkeit gibt es noch sich irgendwie schneller fortzubewegen, als ich es gerade tat.

Aber da, das Zieltransparent. Endlich, geschafft, ......................

Natürlich spürte ich diese berühmten Freudentränen, oder waren es diesmal gar Tränen des Schmerzes, ich weiß es nicht) Ach ja, die Endzeit: 3 h 2 min 33 sec. Ich hatte meinen Marathon-Rekord um 27 Sekunden verbessert. Ein unheimlich gutes Gefühl des Stolzes durchflutete meinen Körper. Ich habe irgendetwas besiegt, den inneren Schweinehund, die biologischen Gesetze, oder was weiß ich was. Ich fühlte mich jedenfalls als Sieger. Marathon war wieder etwas Schönes, Gutes, Nachzuahmendes, Traumhaftes, Geiles, Cooles....................................

P.S.: Ich überlege bereits wann und wo ich die 3 h Schallmauer knacke ! Ja, ja, diese Marathonläufer!
       

Ergebnis : Eisler Heinz  1957  1.HM 01:26:45  2.HM 01:35:50  Gesamt 03:02:35  (04:20min/km)